Medizinnobelpreis 1904: Iwan Petrowitsch Pawlow

Medizinnobelpreis 1904: Iwan Petrowitsch Pawlow
Medizinnobelpreis 1904: Iwan Petrowitsch Pawlow
 
Der russische Physiologe wurde in Anerkennung seiner Arbeit über die Physiologie der Verdauung, mit der er das Wissen über wesentliche Aspekte dieses Bereichs verbessert und erweitert hat, geehrt.
 
 
Iwan Petrowitsch Pawlow, * Rjasan 14. 9. 1849, ✝ Leningrad (heute Sankt Petersburg) 27. 2. 1936; Arzt und Physiologe, seit 1890 Professor für Pharmakologie und 1895-1925 Professor für Physiologie an der Militär-Medizinischen Akademie in Sankt Petersburg, seit 1907 Mitglied der Akademie der Wissenschaften; sein Hauptinteresse galt der Physiologe der Verdauung.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Als Iwan Petrowitsch Pawlow am 12. Dezember 1904 anlässlich der Überreichung des Nobelpreises seinen Festvortrag über die Verdauungsphysiologie (und nicht, wie gelegentlich gemutmaßt wird, über den umgangssprachlich so bezeichneten »Pawlow-Hund«) hielt, bediente er sich in der Schilderung seiner Forschung eines Vergleichs. Man stelle sich den Verdauungsapparat der Wirbeltiere als eine quer durch den Organismus verlaufende Röhre vor. Wie die Außenhülle des Organismus mit Sinnesapparaten bestückt ist, die Reize aus der Umwelt aufnehmen, so ist auch die in der Röhre befindliche Oberfläche mit Sensoren ausgestattet, die auf die physikalisch und chemisch bestimmbaren Eigenschaften der dort vorhandenen Stoffe reagieren. Deshalb nimmt sich der Verdauungsapparat wie ein nach innen gekehrter, verborgener Abschnitt der Körperoberfläche aus, und die von ihm erhaschten Stoffe sind als einverleibte Gegenstände der Umwelt zu begreifen.
 
Man kann diesen Vergleich etwas feiner fassen und eine weitere Parallele herstellen. Wenn die Haut eines Lebewesens durch bestimmte Körpereigenschaften (wie hoher Säuregrad, Härte, Temperatur) erregt wird, reagiert der Organismus nach angeborenen oder erworbenen Mustern auf diese Reizungen. Vergleichbares geschieht im Verdauungsapparat. Ist etwa ein einverleibtes Stück Fleisch verdorben, wird es erbrochen. Dieser Vorgang setzt die Erkennung der für das Lebewesen möglicherweise bedrohlichen Objekte voraus. Aber welche Mechanismen sorgen für diese Erkennung? Wodurch wird der Transport von einem Segment des Verdauungsapparats zum nächsten gesteuert? Und was geschieht mit den Materien in den einzelnen Segmenten im Hinblick auf die Aufnahme der Nährstoffe für das Lebewesen?
 
Vornehmlich mit diesen Problemen haben sich Pawlow und seine Mitarbeiter jahrelang in ausgeklügelten Laborexperimenten auseinander gesetzt.
 
 Von göttlicher zu wissenschaftlicher Berufung
 
Nach Abschluss seiner Gymnasialausbildung wollte Pawlow zunächst den Beruf seines Vaters, eines Geistlichen, ergreifen, entdeckte jedoch bald seine Vorliebe für die Naturwissenschaften. So absolvierte er ein naturwissenschaftliches Studium; ihm folgte das Studium der Medizin, das er 1879 mit Bravour beendete. Dank eines Stipendiums konnte sich der junge Mediziner zunächst der Erforschung der zwischen dem Nervensystem und der Herztätigkeit bestehenden Zusammenhänge widmen. Nach der Habilitation wandte er sich zunehmend den Kernproblemen der Verdauung zu. 1890 wurde er fast zeitgleich mit dem Aufbau der Physiologischen Abteilung des Instituts für Experimentelle Medizin in Sankt Petersburg beauftragt und zum Professor für Pharmakologie an der dortigen Militär-Medizinischen Akademie ernannt; dort erhielt er 1895 den Lehrstuhl für Physiologie, den er bis 1925 innehatte.
 
Die experimentelle Aufklärung der Verdauungsmechanismen stellte Pawlow vor knifflige technische Probleme. Versuche über nerven- und sinnesphysiologische Mechanismen betreffen schnell verlaufende Prozesse. Der Verlauf von Verdauungsprozessen dagegen ist langsam; zudem ereignen sich diese Prozesse im Körperinnern. So bestand für Pawlow und seine Mitarbeiter die erste Aufgabe darin, Versuchstiere so zu präparieren, dass die Segmente des Verdauungsapparats einzeln experimentell gereizt und dass die Folgen auch gemessen werden konnten. Vorwiegend Hunden wurden unter Narkose künstliche Fisteln (Metallrohre) derart gelegt, dass die Ausschüttung von Verdauungssäften sich über längere Zeiträume genau erfassen ließ. So konnte etwa der Speichelfluss in Abhängigkeit von den im Mund befindlichen Objekten ebenso einzeln studiert werden wie die Absonderung der Bauchspeicheldrüse in Abhängigkeit von den durch den Zwölffingerdarm transportierten Stoffen. Aus den Versuchen geht hervor, dass Pawlow die einzelnen Segmente des Verdauungsapparats sowohl als Maschinen, die für den Transport der Stoffe durch das Segment zuständig sind, wie auch als chemische Laboratorien verstand, dank deren Ausstattung die dorthin gelangenden Stoffe verarbeitet werden.
 
Das lässt sich an der Bauchspeicheldrüse veranschaulichen. Zunächst war angenommen worden, dass der mit Magensäure getränkte Speisebrei den Ausfluss des Bauchspeicheldrüsensafts auslösen würde. Als Versuchshunden jedoch diverse Säuren direkt in den Zwölffingerdarm zugeführt wurden, schüttete die Bauchspeicheldrüse reflexartig überdurchschnittlich hohe Mengen ihres Sekrets aus. Folglich war nicht der (säurehaltige) Speisebrei, sondern die bloße Anwesenheit von Säure Ursache dieser Reaktion, die dazu bestimmt ist, die in diesem »Verdauungslaboratorium« vorhandenen Stoffe durch das basische Sekret zu neutralisieren und verdaubar zu machen. Allerdings wäre die Physiologie der Verdauung ein Torso geblieben, wenn Pawlow nicht auch die Tatsache, dass schon der Anblick von Essen den Verdauungsapparat anregt, in die Analyse einbezogen hätte.
 
 Das Auge isst mit
 
Das heißt, dass nicht nur der unmittelbare physische Kontakt zwischen Objekt und Oberfläche des Verdauungsapparats Reflexe in Bewegung setzt, sondern beispielsweise auch der visuelle Kontakt. Die Wirkung von Objekten aus der Entfernung bezeichnete Pawlow als »psychologisch«. Kommt zum visuellen Reiz regelmäßig noch ein zusätzlicher Reiz (etwa ein akustisches Signal) hinzu, dann erregt schon dieses Signal die Tätigkeit des Verdauungsapparats. Diese experimentell bestätigte Tatsache führte zu der für die ganze Verhaltenspsychologie des 20. Jahrhunderts fundamentalen Unterscheidung zwischen dem unbedingten und dem bedingten (erworbenen) Reflex. Da die Wahrnehmung von Objekten aus der Umwelt des Organismus derart tief in die Tätigkeiten des Verdauungsapparats eingreift, kann die Steuerung der Vorgänge in den »Laboratorien« des Verdauungsapparats nur im Gehirn lokalisiert sein. Auch diese zerebrale Steuerung wurde experimentell überprüft. Damit war für Pawlow der Zusammenhang zwischen der für die Aufrechterhaltung der Lebensökonomie notwendigen Verdauung und der für die komplexesten Verhaltensformen zuständigen Hirnaktivität erwiesen.
 
Die Bedeutung der Pawlow'schen Physiologie für das Verständnis auch des menschlichen Verhaltens wurde bald von den politischen Instanzen der jungen Sowjetunion erkannt. Das hatte nicht nur die vorrangige Förderung von Pawlows Forschungsprojekten zur Folge, sondern auch den Einsatz des »Pawlowismus« in verschiedenen ideologischen Auseinandersetzungen des Landes weit über den Tod des Gelehrten hinaus.
 
A. Métraux

Universal-Lexikon. 2012.

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